Fundamentale Unsicherheit

Vor knapp drei Wochen beschrieb Felix Salmon in einer grandiosen Reportage, die das Zeug zum Klassiker haben sollte, ein Mosaiksteinchen, das zusammen mit vielen anderen Steinchen eine schlüssige Erklärung der Entstehung der aktuellen Krise ergeben wird. Es geht in dem Artikel um theoretische Statistik und die Berechnung von Korrelationen zwischen individuellen Risiken. In der Kurzfassung: In einem Fachjournal wird eine relativ einfache Formel zur Berechnung solcher Korrelationen vorgeschlagen, allerdings ist der Fachwelt auch klar, daß dem Modell Annahmen zugrunde liegen, die in der Realität nicht erfüllt sind, so daß man bei allfälligen Anwendungen die Ergebnisse der vorsichtig interpretieren müßte.

Die Finanzindustrie sah hingegen vor allem das einfach anzuwendende Instrument, aber nicht die Einschränkungen seiner Anwendbarkeit auf die Realität. So basierte die Konstruktion und Bewertung von Kreditbündeln und Derivaten am Ende auf einer Formel, die für diese Anwendung eigentlich nicht gedacht war und die, wie sich später zeigen sollte, in der Praxis zu einer systematischen Unterschätzung von Risiken führte. Die Details, wie gesagt, gibt es bei Felix Salmon.

Szenenwechsel: Bei der Jahrestagung der Public Choice Society letzte Woche in Las Vegas redete Michael Munger ein wenig in Rage über den de facto bankrotten amerikanischen Versicherungskonzern AIG. Dieser habe sich verhalten wie ein Sportwettenanbieter, der die Quoten auch dann unverändert läßt, wenn er bemerkt, daß alle Kunden auf das gleiche Team wetten. AIG hat sorglos immer mehr Versicherungen gegen sinkende Häuserpreise verkauft, obwohl auch dem Laien klar sein sollte, daß dies nicht geht: Ein Versicherer kann problemlos eine Million Autofahrer versichern, weil er weiß, daß die Risiken der Fahrer halbwegs unabhängig voneinander sind und nur drei, vier Prozent der Versicherten schwere Unfälle haben werden. Aber wenn ich eine Million Hypotheken versichere, dann weiß ich, daß ich bei einem Preisverfall auf dem gesamten Immobilienmarkt eine Million Versicherungsfälle habe und daran wahrscheinlich bankrott gehen werde.

Was ist passiert? Zwei Dinge: Auch AIG hat die von Salmon vorgestellte Formel genutzt und die Korrelation von Risiken unterschätzt. Ein Platzen der Immobilienblase war schlicht nicht vorgesehen, Wertsenkungen waren in den Vorstellungen der verantwortlichen Manager allenfalls für lokale Märkte denkbar, und das hätte man verkraften können. Und dann eben wieder diese Vorstellung: die Häuserpreise werden weiterhin steigen.

In der letzten Zeit habe ich ja häufiger den ökonomischen Ansatz -- Annahme von Rationalverhalten etc. -- gegen leichtfertige Kritik verteidigt, und dabei bleibe ich auch, aber ein Problem gibt es in einem großen Teil ökonomischer Theorie dann doch: Wir nehmen meistens an, daß die handelnden Individuen selbst ihre Erwartungen auf der Grundlage des korrekten Modells der Volkswirtschaft bilden. Und hier zeigt sich, daß gerade diese Annahme problematisch ist: Haushalte, Unternehmen und auch Politiker agieren manchmal eben auch unter fundamentaler Unsicherheit. Sie wissen nicht, welches Modell die Kausalzusammenhänge in ihrer Welt korrekt beschreibt, und suchen sich dann die eine oder andere Heuristik, die es ihnen erlaubt, Entscheidungen zu treffen. Beim Versuch, korrelierte Risiken zu schätzen, haben zu viele Leute auf das falsche Modell gesetzt.

Gut, damit hätten wir hier also eine erwachsene Hypothese zur Erklärung der Krise, jenseits des kindischen Geredes von unangemessener Gier. Die Frage ist: Was bedeutet das wirtschaftspolitisch? Mehr Regulierung? Man muß sich zunächst mal in Erinnerung rufen, daß der Finanz- und Versicherungssektor in den USA bereits sehr stark reguliert wird. Dennoch schaffen es geschickte Betrüger wie Bernard Madoff immer wieder, unter dem Radar herzufliegen. Und auch arglos Irrende wie die Verantwortlichen von AIG wurden nicht auf ihre Fehlannahmen hingewiesen. Regulierung hat spätestens dort ihre Grenze, wo, wie im Fall AIG, die sich später als desaströs entpuppende Fehleinschätzung nicht nur ein Irrtum einzelner ist.

Drehen wir die Uhr nochmal zurück: die Vorstellung stetig steigender Immobilienpreise war eben kein AIG-spezifischer Irrtum, sondern eine Erwartung, die wahrscheinlich zumindest von vier Fünfteln der Amerikaner geteilt wurde. Auch, und gerade, der amerikanischen Politiker, die Fannie Mae und Freddie Mac anfeuerten, auch arme Haushalte zu Hausbesitzern zu machen, mit Hypotheken, die sich nur rechnen konnten, wenn die neuen Besitzer allein durch den Hausbesitz selbst in den kommenden Jahren einen Vermögensgewinn realisieren würden.

Aber wer reguliert die Regulierer, wenn diese selbst ihre Regulierungsentscheidungen auf der Grundlage eines Modells treffen, das sich später als falsch herausstellt?

Das mag jetzt für viele sehr unbefriedigend sein, aber: Eine offene Gesellschaft lernt aus Versuch und Irrtum. Solange wir aber auf die Offenheit nicht verzichten wollen, gibt es wohl kein Regulierungs-Regime, das uns davor bewahrt, daß immer mal wieder irgendwo Blasen entstehen, die dann auf schmerzhafte Art platzen.